Bei der Zusammenstellung der Sammlung von Spitzen aus dem 18. Jahrhundert mit komplizierten und fein genähten und geflochtenen Mustern im Schlossmuseum Rundāle kam die Frage auf, wie eigentlich die ersten Spitzen entstanden. In den letzten drei Jahren wurden der Sammlung mehrere Beispiele früher Spitzen hinzugefügt, die im Renaissance-Raum der dekorativen Kunstausstellung zu sehen sind. Unter den Durchbruch-, Doppeldurchbruch- und Ajourstickereien auf Stoff und Stickereien auf Netz vom 16. und dem Beginn des 17. Jahrhunderts stechen drei Muster von Buratto-Spitzenstreifen hervor.
Buratto ist ein besonders gewebter Stoff, bei dem die kreuzweise Verbindung zweier Kettfäden ein einheitliches Augennetz verstärken und eine Art Leinwand bilden. Zu Beginn wurde dieser Stoff für praktische Zwecke wie das Auspressen von Käse hergestellt. Er war rau und aus dicken Leinen- oder Hanffäden gewebt. Der Name entstand aus dem lateinischen Wort bura, das „grober Stoff“ bedeutet. Zum Sticken wurden aus einem feineren Leinenfaden Streifen in einer bestimmten Breite mit verschiedenen Augenausmaßen gewebt. Mithilfe von Leinen- oder farbigen Seidenfäden wurde die Stickarbeit mit Platt- oder Flachstich ausgefüllt. Als seltenes Beispiel für einen Streifen aus Buratto-Spitzen ist in Geschichtsbüchern über Spitzen die Mütze von Karl V., Kaiser des Heiligen Römischen Reiches, genannt
Solche Stickereien wurden gewöhnlich für Tischdecken, Altarbedeckungen und Bettwäsche – Bettlaken und Kissenbezüge – benutzt. Die Verzierung von Bettwäsche mit Spitzenstickereien wurde bis in die sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts fortgeführt.
Eine Vorstellung von dieser frühen Art von Spitzen kann man im 1527 von Alessandro Paganino in Venedig herausgegebenen Ornamentmusterbuch „Il Buratto“ gewinnen, in dem nicht nur der Stickprozess, sondern auch das Weben von Buratto-Streifen gezeigt ist. Einzelne Seiten des Buchs sind mit Augennetzhintergrund in verschiedenen Größen versehen, damit darauf das konkrete Stickmuster gemalt werden konnte. Im ersten Teil sind einfachere Motive von Pflanzen und Vögeln gesammelt, in den anderen kompliziertere Kompositionen mit in Ornamente eingestickten Tieren, Vögeln und mythologischen Wesen. Die erste Ausgabe dieses Buchs erschien bereits 1518.
Der besondere Webstuhl wird in Alessandro Paganinos 1527 in Venedig herausgegebenem Buch „Il Buratto“ sowie in Johann Schönspergers 1524 in Zwickau herausgegebenem Buch „Ein new Modelbuch“ gezeigt.
In Niccolò Zoppinos Publikation „Esemplario di lavori“ (1529) sind zwei Weberinnen abgebildet – eine an einem großen Webstuhl, die andere an einem kleinen.
In Giovanni Andrea Vavassores Publikation „Esemplario di lavori“ (1530) werden typische Muster von Vogel- und anderen Tiermotiven dargestellt.
In Domenico ds Seras Buch „Libretto novellamente” (1532) wird das Weben und Sticken gezeigt.
Buratto-Spitzen aus der Sammlung des Schlossmuseums Rundāle
RPM 11818
Italien, 17. Jh. Motive: Schloss, Schiff, Fantasielöwen
11 x 42 cm
Publiziert in: Mick Fouriscot. Le secret des dentelles II. Paris, 2000
RPM 11819
Italien, 17. Jh. Motive: gekrönter Löwe, Vögel, Vase
15,6 x 66 cm
Publiziert in: Mick Fouriscot. Le secret des dentelles. Paris, 2000
RPM 12575
Italien, Ende 16. Jh. Motive: polychromes Pflanzenfeston mit Blüten und Granatäpfeln
19 x 80 cm
Publiziert in: Santina M. Levey. Lace: a History. London, 1983
Die Buratto-Technik entstand im 16. Jahrhundert in Italien, hauptsächlich auf Sizilien und Sardinien. Gestickte Buratto-Spitzen wurden auch im 19. Jahrhundert imitiert, und zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde die Kunst des Burattowebens im italienischen Städtchen Antella in der Toskana von Virginia Nathan und Clara Onori erneuert. Heute ist noch immer der Lisio-Fonds (Fondazione Arte della Seta Lisio) aktiv, der den Bau eines besonderen Webstuhls finanziert hat, auf dem das nicht-traditionelle, für die Buratto-Herstellung nötige kreuzweise Verbinden der Kettfäden möglich ist. Der Fonds wurde 1906 von Giuseppe Lisio in Florenz gegründet, um das historische Brokat- und Samtweben per Handwebstuhl zu erneuern.
Verfasserin: Lauma Lancmane
Foto: Ints Lūsis
Hier können Sie sich das Weben eines Buratto-Streifens ansehen.
Quellen:
Bury Palliser. La dentelle. Paris, 1890
Marie Schuette. Alte Spitzen. Berlin, 1914
Gisela Graff-Höfgen. Die Spitze. München, 1983
Santina M. Levey. Lace: a History. London, 1983
Mick Fouriscot. Le secret des dentelles II. Paris, 2000
dentelle-et-papillon.over-blog.com
https://trc-leiden.nl/
http://italian-needlework.blogspot.com
20.05.2024