Zum ersten Mal erblickte ich die Reproduktion von Agi Jürgens‘ Marmorskulptur „Die Verlassene“ vor etwa neun Jahren, als ich zu Beginn einer Studie über Künstlerinnen Lettlands alle Bände des in Riga herausgegebenen „Jahrbuchs für bildende Kunst in den Ostseeprovinzen“ (1907–1913) des Architektenvereins zu Riga durchblätterte. Die nächste Begegnung fand mehrere Jahre später statt, als ich auf einem Foto, das einem Artikel über die Ausstellungsveränderungen im Kunstmuseum der Stadt Riga in der Zwischenkriegszeitung „Pēdējā Brīdī“ („Im letzten Moment“) beigefügt war, diese weibliche Silhouette wiedererkannte und mich auf die Suche nach der Skulptur machte. Von meinen Kolleginnen aus dem Lettischen Nationalen Kunstmuseum – dem Nachfolger des Kunstmuseums der Stadt Riga – erfuhr ich, dass das Werk weder in der lettischen noch in der ausländischen Bildhauereisammlung vorhanden ist, obwohl im historischen Inventarbuch der Bildhauereisammlung ein nicht datierter Eintrag von der Aufnahme der „Verlassenen“ von „Agi Jurgens“ in die Museumssammlung zeugt; dem Kontext nach zu urteilen stammt er aus dem Zeitraum zwischen 1940 und 1945. Bei der weiteren Erforschung der Reproduktions- und Ausstellungsgeschichte der Skulptur wunderte ich mich ununterbrochen, wie eine fast einen Meter hohe und vermutlich ziemlich schwere Marmorskulptur einfach verschwinden kann – bis ich im Wissenschaftlichen Dokumentationszentrum des Lettischen Nationalen Kunstmuseums bei der Untersuchung der Sammlungsgeschichte des Kunstmuseums der Stadt Riga Dokumente fand, die bestätigten: die Marmorskulptur „Die Verlassene“ von Bildhauer „Jurgens“ war „zur Ausstellung im Schloss Rundāle“ an das Heimatkunde- und Kunstmuseum Bauska übergeben worden. Es stellte sich also heraus, dass die Skulptur sich bereits 45 Jahre lang in dem Museum befand, in dem ich seit über einem Jahr arbeitete! Endlich konnte ich das Werk, das ich so lange gesucht hatte, selbst begutachten.
Die ersten Bildhauerinnen
Der Architekt, Kunsthistoriker und erste Direktor des Kunstmuseums der Stadt Riga, Wilhelm Neumann, bewertete in einer Rezension des „Jahrbuchs für bildende Kunst in den Ostseeprovinzen“ von 1913 den weiblichen Beitrag zur Bildhauerei wie folgt: „Von dem, was baltische Kunst auf dem Gebiete der Skulptur geleistet hat, erzählen uns zwölf Illustrationen. Bezeichnend ist, daß, wie in der Malerei, auch hier die Frauenarbeit überwiegt. Sehr beachtenswerte Arbeiten sieht man von Konstance von Wetter-Rosenthal und Agi Jürgens.“ („Deutsche Monatsschrift für Russland“, 1913, Nr. 6) Im Jahrbuch sind auch Werke des späteren Leiters der Bildhauermeisterwerkstatt der Lettischen Kunstakademie Konstantin Ronczewski, des in Berlin tätigen deutschbaltischen Bildhauers Hans Lütkens und der in Dresden tätigen Benita von Heinemann reproduziert. In der bewerteten Ausgabe sind insgesamt vier Bildhauerwerke von Agi Jürgens zu sehen: zwei Porträtbüsten, die Figur eines halb entblößten Mädchens und der genannte Akt einer jungen Frau.
Die aufbewahrten Ausstellungskataloge und Presserezensionen zeigen, dass die erste Ausstellung einer Skulptur einer lokalen Künstlerin in Riga 1897 stattfand, als Doris von Krüdener im Kunstsalon des Rigaschen Kunstvereins zwei Porträtköpfe aus Ton und die Kopie einer Skulptur des italienischen Bildhauers der Renaissance Donatello ausstellte. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts nahmen auch die nahe der lettischen Grenze in Estland geborene und in Berlin ausgebildete Bildhauerin Edith Kirstein, die ehemalige Schülerin der Malschule Elise von Jung-Stillings, Dagmar Bok-Haensell, sowie die Baronin Constanze von Wetter-Rosenthal, die in der Zwischenkriegszeit in Estland lebte und arbeitete, an Ausstellungen teil. Als damals bedeutendste der mit Lettland verbundenen Bildhauerinnen müssen die in München ausgebildete jüdische Bildhauerin Harriet von Rathlef-Keilmann und die in Paris ausgebildete Deutschbaltin Agi Jürgens hervorgehoben werden. Leider sind in den lettischen öffentlichen Sammlungen keine Werke der ersten lokalen Bildhauerinnen enthalten; vereinzelt sind Reproduktionen davon im genannten „Jahrbuch für bildende Kunst in den Ostseeprovinzen“ zu sehen, doch auch diese sind nicht bis heute erhalten oder ihr Aufbewahrungsort ist nicht bekannt.
Die Behauptung von Wilhelm Neumann, dass die Arbeit von Frauen in der örtlichen Kunst überwiegt, muss als übertrieben gewertet werden. Doch ist nicht von der Hand zu weisen, dass in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts viele beachtliche, gut ausgebildete junge Künstlerinnen die lettische Kunstbühne betraten und dass in den Ausstellungen des Baltischen Künstlerbunds, der fast alle örtlichen deutschen Künstler vereinte, Frauen knapp die Hälfte aller Aussteller darstellten. Doch die Geschichte Agi Jürgens‘ ist eine andere, denn sie beteiligte sich nicht an den Ausstellungen dieses Bunds, obwohl ihre Ausbildung und ihr beruflicher Werdegang sich nicht wesentlich von denen vieler Künstlerinnen lettischer Herkunft der Jahrhundertwende unterschieden.
Agi Jürgens‘ Lebensweg
Agnes (Agi) Jürgens, verh. Brutzer (1881/1882–1936), wurde im russischen Twer geboren und verbrachte ihre Kindheit in Riga, wo sie auch ihr Kunststudium begann. Ihr Vater Eduard Jürgens (1853–1925) war ausgebildeter Chemiker, der nach seinem Studium an der Universität Dorpat mehrere Jahre in verschiedenen Positionen in russischen Fabriken arbeitete und 1882 nach Riga zurückkehrte, wo er sowohl technischer Leiter einer Fabrik als auch Präsident der Technischen Gesellschaft war und verschiedene Ämter in der Stadtverwaltung bekleidete. 1904 wurde er in den Stadtrat von Riga gewählt. Agi Jürgens selbst absolvierte zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Zeichenschule Elise von Jung-Stillings in Riga und erwarb eine Lehrberechtigung im Zeichen. Im Herbst 1910 begann sie ein Studium bei dem berühmten französischen Bildhauer des Modernismus Antoine Bourdelle in Paris.
Schon bald schenkte die örtliche Presse der jungen Künstlerin ihre Aufmerksamkeit: im Juni 1912 berichtete die monatliche „Kunstbeilage des Rigaer Tageblatts“ (1912, Nr. 6, S. 45) über ihre Teilnahme an einer Ausstellung, einem sog. Salon, der Pariser Gesellschaft für schöne Künste (Société Nationale des Beaux-Arts), die zu den offiziellen Ausstellungen der französischen Kunstmetropole gehörte. Dort wurden zwei Werke von Agi Jürgens ausgestellt – ein in rosa Marmor gehauener Mädchenkopf und die aus weißem Marmor gefertigte Skulptur „Die Verlassene“. Diese hätten die Aufmerksamkeit der französischen, deutschen und englischen Presse erregt und seien als „interessant“ beschrieben worden, während die Künstlerin selbst als „hoch begabt“ bezeichnet wurde.
Im nächsten Jahr wurden beide Skulpturen im „Jahrbuch für bildende Kunst in den Ostseeprovinzen“ reproduziert, und bei ihrer Bewertung entstand die genannte Aussage von Wilhelm Neumann über die Arbeit der Frauen in der Bildhauerei. Das Jahrbuch mit seinen vier reproduzierten Werken war, bis wir den Aufbewahrungsort des Originals dieser Skulptur geklärt hatten, das einzige mir bekannte Zeugnis, das neben den schriftlichen Quellen eine visuelle Vorstellung von Agi Jürgens‘ beruflichem Schaffen in der Bildhauerei bot. Die reproduzierten Fotografien, die anscheinend größtenteils in der Werkstatt der Künstlerin aufgenommen wurden, lassen vermuten, dass zwei Werke – das männliche Porträt und die Figur des halb entblößten kreolischen Mädchens – aus Ton, Gips oder einem ähnlich weichen Material gefertigt wurden, während das Porträt des Mädchens und der Akt der jungen Frau aus Marmor gehauen sind, was von einer seriösen Herangehensweise an die Bildhauerei und großen Fertigkeiten zeugt. Die „Rigasche Rundschau“ bekräftigt in einer Ausgabe von 1935 die Existenz einer weiteren Arbeit: Im Kunstmuseum der Stadt Riga seien die von Agi Jürgens aus Marmor gefertigten Hände der Agrikulturchemikerin Margarete (Daisy) von Wrangell zu sehen gewesen.
Wahrscheinlich ist Agi Jürgens nach ihrem Studium in Paris gar nicht oder nur für eine kurze Zeit nach Riga zurückgekehrt. Wie Kuno Hagen, der Herausgeber des „Lexikon deutschbaltischer bildender Künstler. 20. Jahrhundert“ (Köln, 1983), feststellte, lebte die Künstlerin während und nach dem Ersten Weltkrieg in Deutschland und arbeitete in Berlin und Luckau. In den Kriegsjahren verdiente sie ihren Lebensunterhalt mit der Erstellung und dem Verkauf von etwa 300 Porträtkopien der berühmten ägyptischen Herrscherin Nofretete, nach dem Krieg fertigte sie für europäische Museen Kopien verschiedener Skulpturen, die im Ägyptischen Museum Berlin aufbewahrt wurden. Sie beteiligte sich in ihrer Karriere an Ausstellungen in Paris, London, Philadelphia und Berlin, wo sie 1936 starb.
Das Schicksal der Skulptur „Die Verlassene“
In der Arbeit „Die Verlassene“ stellt Agi Jürgens den Akt einer jungen Frau dar, der anatomisch akkurat gelungen ist, ohne die für die Modernismustendenzen dieser Zeit charakteristischen Stilisierungen oder Deformierungen. Das Modell sitzt mit geneigtem Kopf und teilweise angezogenen Beinen, stützt sich auf ihre rechte Hand und berührt mit der linken ihre Ferse. Körperhaltung und Gesichtsausdruck der jungen Frau zeugen von Nachdenklichkeit oder Traurigkeit, und der Name des Werks bestätigt, dass diese wehmütige Stimmung von jemandem hervorgerufen wurde, der sie verlassen hat.
Die weibliche Figur befindet sich auf einer rechteckigen Fläche, in die die Unterschrift der Autorin und die Datierung graviert sind – „Agi Jürgens / Paris 1912“, die Arbeit entstand also 1912 in Paris. Vermutlich war die junge Bildhauerin zu dieser Zeit noch Antoine Bourdelles Schülerin und wahrscheinlich bewirkten die Empfehlungen und Beziehungen ihres Lehrers, dass Agi Jürgens‘ Werke im Pariser Salon ausgestellt wurden.
Zur Gestaltung der wichtigsten Pariser Ausstellungen bemerkte Ernests Puriņš, Korrespondent der Zeitschrift „Druva“ 1913, im offiziellen Salon seien „die Akademiker die Hauptverantwortlichen, und nur die Werke ihrer Schüler und Verwandten werden für die Ausstellung zugelassen. Ausländer und selbst entferntere Franzosen brauchen nicht einmal daran zu denken, dort aufgenommen zu werden, wenn sie sich nicht zuvor um ein gutes Patronat bemüht haben.“ („Druva“, 1913, Nr. 8, S. 1013) Ähnliche Beobachtungen bezüglich der Möglichkeiten, die eigenen Werke in einem der offiziellen Pariser Salons zu präsentieren, teilte auch die lettische Malerin Milda Grīnfelde (1881–1966) in Briefen an ihren Mann. Nach vierjährigem Studium in der französischen Kunstmetropole und Bemühungen, in die offiziellen Salons aufgenommen zu werden, nahm sie 1912 und 1913 an der Ausstellung der Vereinigung unabhängiger Künstler (Société des Artistes Indépendants), dem sogenannten unabhängigen Salon, teil. Doch die Biografien mehrerer anderer Künstlerinnen wie etwa Ida Fielitz und Alice Dannenberg, die aus Lettland stammten, zeigen, dass es für baltische Künstler möglich war, in den offiziellen Pariser Salons aufgenommen und regelmäßig ausgestellt zu werden.
1918 wurde Agi Jürgens‘ Skulptur „Die Verlassene“ noch in eine andere repräsentative Ausstellung aufgenommen, und zwar in die auf Initiative des „Vereins für das Deutschtum im Ausland“ organisierte „Livland-Estland-Ausstellung“, die zunächst im Juni in den Räumen der Königlichen Kunstschule zu Berlin gezeigt wurde, bevor sie nach Hamburg und Lübeck wanderte. Die Ausstellung entstand als Fortsetzung der 1917 in Stuttgart organisierten „Kurland-Ausstellung“, die die deutschen Besucher mit der Geografie sowie historischen, kulturellen und wirtschaftlichen Werten der Region bekannt machen sollte. Die Kunstabteilung der „Livland-Estland-Ausstellung“ gestaltete der bereits genannte Direktor des Kunstmuseums der Stadt Riga, Wilhelm Neumann, daher überrascht es nicht, dass Agi Jürgens‘ Marmorskulptur ihren Weg in die Sammlung des Museums fand. Bislang wurden jedoch keine Dokumente gefunden, die darauf hinweisen würden, wann dies geschah. Der um 1940–1945 getätigte Eintrag im historischen Bildhauerei-Inventarbuch weist auf die Zeit des Zweiten Weltkriegs hin, doch das mehrere Jahre zuvor in der Presse veröffentlichte Foto mit der Skulptur in einer Ausstellung des Kunstmuseums der Stadt Riga lässt daran zweifeln.
Wie die Zeitung „Pēdējā Brīdī“ am 3. September 1927 berichtete, wurden „über die Sommerferien einige Räume des Kunstmuseums der Stadt Riga neu gestrichen sowie einige Umgestaltungen vorgenommen. Größere Neugruppierungen wurden im Skulptursaal vorgenommen.“ („Pēdējā Brīdī“, 1927, Nr. 150) Einem kurzen anonymen Text, der über Veränderungen auch in der Gemäldeausstellung informiert, sind drei Fotografien beigefügt. Eines davon zeigt den damaligen Direktor des Kunstmuseums der Stadt Riga, Vilhelms Purvītis, der in der erneuerten Ausstellung posiert, den Ellbogen auf den Sockel der Büste der Athena gestützt, die der deutschbaltische Bildhauer Carl Hans Bernewitz aus verschiedenfarbigem Marmor, Elfenbein, Ebenholz und vergoldeter Bronze gefertigt hatte und die 1912 für die Museumssammlung gekauft wurde. Auf dem zweiten Foto steht Vilhelms Purvītis mit seinem Kollegen Kārlis Jurjāns und Sekretär Herberts Birznieks im Säulensaal vor Gipsabgüssen von Skulpturen der Antike und Renaissance, auf dem dritten ist ein Teil der baltischen Bildhauerausstellung zu sehen mit der „Verlassenen“ von Agi Jürgens im Vordergrund. Ob das Werk dort bis zum Kriegsbeginn ausgestellt wurde, konnte noch nicht geklärt werden; jedenfalls wurde die Ausstellung später verändert, und am 31. Mai 1965 gab der Nachfolger des Kunstmuseums der Stadt Riga, das Staatliche Museum lettischer und russischer Kunst (heute das Lettische Nationale Kunstmuseum) die Skulptur zusammen mit 42 anderen Arbeiten der Bildhauerei und angewandten Kunst auf Anweisung des Kulturministeriums der Lettischen Sowjetrepublik an das Heimatkunde- und Kunstmuseum Bauska „zur Ausstellung im Schloss Rundāle“.
Die 1912 von Agi Jürgens geschaffene Skulptur „Die Verlassene“ ist die früheste mir bekannte Arbeit einer Bildhauerin lettischer Herkunft, die bis heute erhalten ist. Zudem ist sie nicht aus Gips oder Ton, welche leichter zu verarbeiten sind, sondern aus Marmor – einem beständigen, hochqualitativen Material – gefertigt, was vom technischen Können und den beruflichen Ambitionen der jungen Künstlerin zeugt.
Die Skulptur ist in keiner der ständigen oder thematischen Ausstellungen des Schlossmuseums Rundāle enthalten, doch ist sie in der Sommersaison allen Interessierten frei zugänglich, denn sie befindet sich in einem Gebäude des Schlosskomplexes – der um 1800 erbauten Schlossschenke. Wenn Sie das darin eingerichtete Café besuchen, begegnen Sie rechts im Vorraum dem verlassenen Mädchen von Agi Jürgens …
Verfasserin: Dr. art. Baiba Vanaga
20.05.2024