Vor Kurzem nahm ein sehr großes Gemälde (276 x 217 cm) seinen Platz in einem der Säle im Erdgeschoss des Schlossmuseums Rundāle ein. Viele werden darin den englischen König Karl I. erkennen, gemalt von Anthonis van Dyck. Die im Louvre zu betrachtende Darstellung ist eine der bekanntesten dieses tragischen Herrschers, die den König in stolzer Haltung bei der Jagd vor dem Hintergrund einer romantischen Landschaft am Meer zeigt. Das Porträt entstand um 1635, es ist jedoch nicht geklärt, wann es nach Frankreich kam. 1793 war es bereits aus dem Eigentum Ludwigs XVI. in die Sammlung des Louvre übergegangen; dieser hatte es von der Gräfin du Barry gekauft. Das Leben der beiden letzten Eigentümer des Porträts endete ebenso wie das des abgebildeten Königs auf dem Schafott.
Das genannte Porträt von Karl I. hat das Louvre jedoch nicht verlassen – im Schloss Rundāle befindet sich eine Kopie mit einem äußerst ungewöhnlichen Schicksal. Als dieses beschädigte Gemälde dem Museum vor einigen Jahren zusammengerollt angeboten wurde, war dessen Geschichte nicht bekannt. Der Ersteller der Kopie hat das Werk nicht unterschrieben. Doch es ist eine Fotografie von einem Saal im Herrenhaus des Guts Fockenhof zu Beginn des 20. Jahrhunderts erhalten, auf dem ein großes Porträt Karls I. an der Wand hängt, das dem Prototyp von van Dyck entspricht. Der Architekt Adolph Winberg baute dieses Herrenhaus von 1856 bis 1860 für den Fürsten Alexander von Lieven. Fürst von Lieven hatte einen Teil seines Lebens im Ausland verbracht, ihm gehörte auch eine Villa in Neapel. Entsprechend dem Stil seines vielseitigen Zeitalters, das Repräsentation und Prunk erforderte, wollte der Fürst des Guts Fockenhof eine wirklich europäische, moderne Umgebung schaffen. Das pompöse Porträt des Königs sorgte darin für eine besonders feierliche Atmosphäre.
Bekanntermaßen bestellte Fürst von Lieven das Porträt 1873 in Paris vom jungen Maler Ernst von Liphardt, was zu einem Wendepunkt im Leben und der Karriere des Künstlers wurde. Ernst Friedrich wurde 1847 am Ratshof (Landgut Raadi) in die Familie des Gutsbesitzers Karl Eduard von Liphardt geboren. Sein Vater war Kunstexperte und Sammler. Ab 1862 lebten Vater und Sohn in Florenz, wo Ernst unter dem Münchner Künstler Franz von Lenbach Malerei studierte, welcher in Florenz seit Langem die Arbeiten von Veronese, van Dyck und Tintoretto kopierte. 1873 setzte Ernst sein Malerstudium in Paris fort, heiratete sein Malermodell Luisa Juan und konvertierte zum Katholizismus. Sein wütender Vater, der strenger Lutheraner war, enterbte daraufhin seinen Sohn. Obwohl sie sich später teilweise versöhnten, erbte das Landgut nach dem Tod Karl Eduard von Liphardts 1891 nicht Ernst, sondern Reinhold Karl von Liphardt, ein Verwandter aus einer Seitenlinie der Familie.
Die Kopie des Porträts von Karl I. brachte dem jungen Künstler Bekanntheit und, was für ihn in dieser finanziell schwierigen Zeit wichtig war, weitere Gemäldebestellungen ein. Er wurde zum van Dyck seiner Zeit – einem geachteten Maler von Paradeporträts – vor allem in den höfischen Kreisen Russlands, wo er seit 1886 lebte und nicht nur Ruhm, sondern auch Reichtum erlangte. Als in der livländischen Komturei in Riga das Porträt des verstorbenen Imperators Alexanders III. mit dem Bild des neuen Herrschers Nikolaus‘ II. ersetzt werden musste, schuf von Liphardt ein glanzvolles Paradeporträt nach van Dycks Art, auf dem der Kaiser in Husarenuniform an der Nachbildung eines prunkvollen Schreibtischs Ludwigs XV. steht: größer und schlanker – ähnlich, wie van Dyck einmal König Karl I. abgebildet hatte. Vielleicht dachte von Liphardt bei der Arbeit an diesem Porträt an vergangene Zeiten, als er im Louvre van Dycks Meisterwerke betrachtete, und versuchte, diese möglichst genau auf seine Leinwand zu übertragen? Während seiner Karriere als Paradeporträtist wiederholte Liphardt mehrfach das Porträt Nikolaus‘ II. und malte den Kaiser auch in anderen Uniformen vor verschiedenen Hintergründen, jedoch immer sehr realistisch und überzeugend.
Nach der Umgestaltung der Komturei zum Sitz des lettischen Parlaments und dem Brand 1921 begann das Porträt Nikolaus‘ II. zusammen mit den Porträts der anderen russischen Herrscher die Reise zu verschiedenen Lagerstätten, bis sie sich Ende der sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts alle im Requisitenlager des Filmstudios Riga wiederfanden. Leider war der Versuch des Schlossmuseums Rundāle, die Gemälde in seinen Besitz zu übernehmen, nicht erfolgreich. Als dies nach der Wiedererlangung der Unabhängigkeit Lettlands erneut versucht wurde, hatte das Filmstudio die Porträts nicht mehr. Doch in den neunziger Jahren wurde ein von Ernst von Liphardt gemaltes Porträt Nikolaus‘ II. in Husarenuniform neben der Nachbildung eines prunkvollen Schreibtischs Ludwigs XV. in Stockholm zu einem enormen Preis angeboten. Vielleicht war es das aus der livländischen Komturei, vielleicht auch nicht …
Wie schon sein Vater, so war auch Ernst von Liphardt ein Kunstexperte und so wurde er 1906 zum Archivar der Gemäldekollektion der kaiserlichen Eremitage. Dank seiner Energie erlangte die Eremitage Leonardo da Vincis „Madonna Benois“.
1918 begann Ernst von Liphardt ein grandioses Projekt – im Sommer nahm er Gespräche mit dem Grafen Andrei Schuwalow über einen Kauf des Guts Rundāle auf. Ohne Zweifel war dieser Plan mit dem Wunsch verbunden, seine Kunstsammlung auf beeindruckende Weise auszustellen. Wäre dies gelungen, so wäre in Lettland ein neues, großes Kunstmuseum entstanden, doch es sollte anders kommen. Die Novemberrevolution in Deutschland zerstörte auch das in Lettland neu geschaffene politische System mit dem erneuerten Herzogtum Kurland und Semgallen unter dem Protektorat des Deutschen Reiches. Die weitere politische Entwicklung führte zur Agrarreform sowohl in Lettland als auch in Estland, infolge derer Ernst von Liphardt den Ratshof und seine Sammlungen verlor.
Nach der Oktoberrevolution 1917 in Russland blieb Ernst von Liphardt weiterhin Archivar der Gemäldekollektion der Eremitage und setzte die Erstellung eines Katalogs italienischer Gemäldesammlungen gar bis 1929 fort, als er aufgrund von Stellenabbau entlassen wurde. Doch 1921, als seine Tochter in Omsk für das Verstecken eines Weißgardisten erschossen wurde, musste von Liphardt seine Wohnung verlassen. Nachdem er noch ein Theaterstück über den italienischen Maler Bernardino Luini geschrieben hatte, starb von Liphardt 1932 in Leningrad. Während es ihm vergönnt war, seinen Lebensweg im Glanz des aristokratischen, monarchischen Europa zu beginnen, starb er in Armut in der Unterdrückung des sowjetischen Russland.
Um zum Porträt Karls I. zurückzukehren – es musste sichergestellt werden, dass das vom Museum erworbene Gemälde dasselbe war, welches Fürst von Lieven 1873 von von Liphardt bestellt hatte. Einerseits schien dies wenig wahrscheinlich, da das Schloss Fockenhof 1905 niedergebrannt worden war. Außerdem war das Gemälde nicht auf der Liste der Gegenstände, die Fürst von Lieven im Kurländischen Provinzial-Museum in Jelgava (Mitau) gelagert hatte und die somit die Revolution und die Kriege glücklich überstanden, um nun einen Ehrenplatz im Kunstmuseum Rigaer Börse einzunehmen. Unter diesen befindet sich auch die 1847 von Luigi Bienaimé gefertigte Skulptur einer Bacchantin, die sich im Saal des Schlosses Fockenhof neben dem Porträt Karls I. befand.
Das Porträt war stark beschädigt, zerknickt und zerstochen, und die Farbschicht war aufgeplatzt und stellenweise abgebröckelt. Die Restauration dauerte von Oktober 2016 bis April 2018 und wurde von der Altmeisterin Zita Sokolova und Studenten der Kunstakademie Lettlands durchgeführt.
Der geschickte, freie Anstrich entspricht der Hand von Ernst von Liphardt, die später auch für große, virtuos ausgeführte dekorative Gemäldeserien bekannt wurde. Zu beachten ist, dass die angewandte Technik seiner Zeit entspricht – sowohl die Asphaltfarbe als auch die reichliche Verwendung von Leinöl, das ein starkes Zusammenziehen der Farbe zur Folge hat, wodurch diese in einzelne Inseln zerfließt.
Doch uns stehen nicht nur logische und stilistische Überlegungen zur Verfügung, sondern auch faktische Beweise. Das Gemälde entstand auf einer großformatigen, speziell grundierten Leinwand, deren Hersteller seinen Namen auf der Rückseite mit einer Schablone anbrachte. Es ist die Firma Colin in Paris, die 1829 gegründet wurde und sich auf dem Platz des Louvre Nr. 19 neben dem Museum befand. Form und Anordnung der Buchstaben sind typisch für das 3. Viertel des 19. Jahrhunderts. Es ist unmöglich, dass zwei Künstler Kopien des Porträts Karls I. um 1870 in Paris für verschiedene Auftraggeber aus Lettland angefertigt haben, und dass es in Lettland noch einen zweiten Auftraggeber wie den Repräsentationen liebenden Eigentümer des Guts Fockenhof, Fürst Alexander von Lieven, gab. Daher muss angenommen werden, dass wir das 1873 von Ernst von Liphardt angefertigte Werk vor uns haben. Unter welchen Umständen es aus den Flammen des niedergebrannten Guts Fockenhof gerettet wurde, bleibt unserer Vorstellungskraft überlassen. Für den schlechten Zustand und die besonders stark zusammengezogenen Farben kann nicht nur zu viel Leinöl während des Malens verantwortlich sein, sondern auch Hitze. Wahrscheinlich wurde das Gemälde 1905 aus dem brennenden Haus getragen. So ist auch zu erklären, wie es in private Hände gelangen und später in Zemgale verbleiben konnte.
Autor: Imants Lancmanis Dr. h. c. art.
11.06.2019