Bei der Einrichtung des vorletzten, dem Historismus gewidmeten, Ausstellungsraums der ständigen Ausstellung „Von der Gotik bis zum Jugendstil“ im Frühling 2018 wurde festgestellt, dass keine Porträts vorhanden sind, die dem Besucher helfen würden, die Gegenwart der einstigen Benutzer der Ausstellungsstücke zu verspüren. Und genau in diesem Moment erreichte uns ein Angebot von Graf Alejandro Medem aus dem fernen Chile, die Porträts seiner Großeltern zu kaufen.
Die übersandten Fotos zeigten den letzten Eigentümer des Guts Eleja (Elley), Paul Medem, und seine Frau Helen mit ihrer Tochter Helene Mathilde in Sally von Kügelgens Gemälden von 1896. Wir kannten diese Werke bereits seit 1989 aus Fotografien, als das Schlossmuseum Rundāle eine dem Schloss Eleja gewidmete Ausstellung gezeigt hatte. Es war bekannt, dass sie sich im Besitz der Nachfahren der Familie Medem befinden. Damals halfen die Enkelin des Graf Paul Medem, Baronin Gerharda von Hoyningen-Huene, und ihr Mann, Baron Heiner von Hoyningen-Huene, dem Museum mit wichtigen Informationen für die Ausstellung wie Fotografien und genealogischen Materialien.
Die Porträts wurden gekauft und sofort im Historismusraum angebracht. Sie waren in gutem Zustand, was angesichts ihres komplizierten Schicksals bewundernswert war.
Graf Paul Medem (1860–1939) hatte das Gut Eleja 1883 von seinem Onkel Graf Johann Medem geerbt, der keine Nachfahren hatte. 1887 heiratete Paul Helen (1870–1940), die Tochter des Inhabers von Gut Bukaiši (Fockenhof), Fürst Nikolaus Wilhelm Lieven, mit der er drei Söhne und vier Töchter hatte. Im Porträt ist die älteste Tochter Helene (Ellen) Mathilde Jenny (1888–1985) zu sehen, die 1911 Karl Ernst (1886–1958), den Sohn des Eigentümers von Gut Vecauce (Alt-Autz), Graf Friedrich Paul Medem, heiratete.
Schöpferin der Porträts ist die deutschbaltische Malerin Sally von Kügelgen (1860–1928), geboren in Tartu (Dorpat), Estland, als Tochter des Malers Konstantin von Kügelgen und
Antonia, geb. Baronin von Maydell. Sie lernte die Malerei bei ihrem Vater und der Künstlerin Julie Wilhelmine Hagen-Schwarz, war später Gasthörerin an der Kunstakademie St. Petersburg und perfektionierte ihre Kunst in der Werkstatt des bekannten Porträtisten Iwan Kramskoi. Seit 1890 lebte sie in Rom, kehrte jedoch regelmäßig zurück in ihre baltische Heimat. Geachtet als Porträtistin, schuf von Kügelgen aber auch die Fresken mit Motiven aus dem Leben Jesu im Altarraum der Tallinner Karlskirche nach Timoleon von Neffs Entwürfen. Die Porträts der Familie Medem zeichnen sich unter ihren Werken durch ihren besonders repräsentativen Charakter aus. Das enthaltsame, dunkle Kolorit, in dem Brauntöne dominieren, spiegelt den Einfluss Kramskois wider; in den Gesichtern erkennt man den Realismus aus Hagen-Schwarz‘ Porträts. In der weißen Leichtigkeit der Garderobe der Gräfin und den verfließenden Linien wiederum verspürt man schon die Nähe des Jugendstils, was auch kein Wunder ist, da die Entstehungszeit des Gemäldes mit der Herausgabe der ikonischen Jugendstilpublikation „Jugend“ in München zusammenfällt.
Die Porträts entstanden im Schloss Eleja – Graf Medem ist im Kuppelsaal in einem sog. kurulischen Stuhl sitzend zu sehen, der aus Fotos des Schlosses bekannt ist. Wiederzuerkennen ist auch der Rotholztisch mit Bronzedekorationen, der sich in den Räumlichkeiten der Gräfin Helena befand. Der monumentale Kamin aus dem Porträt der Gräfin hingegen ist ein keiner der Fotografien aus dem Schloss zu sehen und lässt nur erahnen, welche künstlerischen Werte noch im Schloss Eleja vorhanden waren, die nun aber verloren sind, ohne auch nur Fotoaufnahmen zu hinterlassen.
Die Schicksale der beiden Porträts im vergangenen Jahrhundert waren dramatisch, ebenso wie die des Schlosses Eleja und dessen Einrichtung. Das Schloss Eleja war das herausragendste, und dazu ein gut erhaltenes, Beispiel für die Gutsarchitektur im klassizistischen Stil in Kurland und ganz Lettland. Es wurde von 1806 bis 1810 nach dem Projekt des italienischen Architekten Giacomo Quarenghi, das von Johann Georg Adam Berlitz überarbeitet worden war, für Graf Jeannot Medem erbaut.
Bis zum Ersten Weltkrieg war die ursprüngliche Innenverkleidung mit Bemalungen und dekorativer Bildhauerei im Schloss Eleja unversehrt erhalten geblieben und wurde von einer herausragenden Kunstsammlung geschmückt. Im Juli 1915 wurde das Schloss von demoralisierten Soldaten der russischen Armee niedergebrannt, die sich aus Riga zurückzogen und auf ihrem Weg alles verwüsteten. Die Gemäldesammlung blieb erhalten, da sie schon rechtzeitig nach Jelgava (Mitau) und dann weiter nach Dresden geschickt worden war, wohin sich Graf Paul Medem mit seiner Frau im Dezember 1919 zurückzog. 1939 zogen sie zu ihrer Tochter Dina (1890–1980) nach Neustift bei Passau (Niederbayern). Ein Teil der Gemälde wurde verkauft, so auch der Stolz der Sammlung: vier Landschaften von Caspar David Friedrich, die es Graf Medem ermöglichten, den stattlichen Lebensstil fortzuführen, den er aus Kurland gewohnt war.
Zu Beginn des Zweiten Weltkriegs befand sich die Sammlung noch immer in Dresden, wo sie 1945 in der Bombennacht vom 13. auf den 14. Februar vernichtet wurde. Auf unbekannte Weise wurden die beiden Porträts und einige weitere Gemälde von der Zerstörung gerettet. Nach dem Krieg wurden sie in Wandlitz (unweit von Berlin) bei der Baronin von Meerscheidt-Hüllessem aufbewahrt, der Schwiegermutter von Graf Paul Medems ältestem Sohn Friedrich Johann Theodor oder Fred (1897–1959). Nach ihrem Tod 1966 erbte ihre Tochter Gerda von Meerscheidt-Hüllessem, die in Schleswig wohnte, die Porträts. Als diese starb, erhielt sie der Neffe ihres verstorbenen Ehemanns, Alexander Medem, der nach Südamerika auswanderte. Die beiden Porträts wurden bei seinem Verwandten, Freiherr von Poschinger-Bray, aufbewahrt, von dem das Schlossmuseum Rundāle sie erhielt.
Im prächtigen Interieur des Historismusraums könnten sich Graf Paul Medem und seine Frau und Tochter nun ganz wie zu Hause im Schloss Eleja fühlen. An der gegenüberliegenden Wand befindet sich das Porträt der Gräfin Sophie Medem vom Gut Stukmaņi (Stockmannshof), und ganz in der Nähe das ihres Verwandten, des Eigentümers des Guts Mežotne (Mesothen) Fürst Paul Lieven, welches von Iwan Kramskoi gemalt ist. Im gegenüberliegenden Flügel des Schlossmuseums Rundāle ist ein Kunstwerk zu sehen, das Gräfin Helen Medem seit ihrer Kindheit kannte – eine Kopie des von Ernst von Liphart gemalten Porträts von König Karl I. von England, die schon das Heim ihres Vaters in Bukaiši schmückte und während der Revolution im Jahre 1905 auf wundersame Weise gerettet wurde.
Im Historismusraum befindet sich noch ein Erinnerungsstück der Gräfin Helen Medem – am 24. Mai 2018 schenkte Baronin Gerharda von Hoyningen-Huene dem Schlossmuseum Rundāle die von ihrer Großmutter gestickten Brokatschühchen, die nun unter ihrer früheren Eigentümerin in einem Glaskasten zu betrachten sind.
Autor: Dr.h.c.art. Imants Lancmanis
20.05.2024