Im Oktober 1988 bekam das Museum einen Anruf aus Riga. Jemand bot eine große Uhr „mit Malachit“ an. Malachit? Dann wurde die Uhr ja höchstwahrscheinlich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Russland gefertigt und war gewiss nicht für das Schloss Rundāle geeignet. Doch wir fuhren trotzdem nach Riga. In einem gewöhnlichen Haus in der „Moskauer Vorstadt“ stand auf dem Tisch einer kleinen Küche, bedeckt von einem Wachstuch, ein großer Gegenstand. Der Gastgeber nahm die Bedeckung ab, und wir erblickten etwas Unglaubliches: eine monumentale, vergoldete Bronzeuhr mit der Figur der römischen Göttin Diana auf einem von vier Hirschen gezogenen Streitwagen. Der Sockel war mit Malachit bedeckt und der Gegenstand war in großartigem Zustand – nur die Zeiger der Uhr fehlten. Das Museum kaufte die Uhr für 2.300 Rubel und konnte stolz auf ein herausragendes Werk der angewandten Kunst im Stil des Empire sein, doch noch immer blieben Schöpfer und Herkunft unklar, ebenso wie die Frage, wie dieses Meisterwerk nach Lettland gekommen war.
Fünf Jahre vergingen, bis ein Brief aus Kanada eintraf, geschrieben von Karl Johann Lieven, dem Sohn des letzten Eigentümers von Gut Mesothen, Fürst Anatol Lieven. In gutem Lettisch antwortete er auf die Fragen des Autors dieses Textes über das Gut Mesothen und dessen Aussehen in seiner Kindheit und Jugend.
Dem Brief lagen Fotografien bei: Ansichten des Schlosses Mesothen, Porträts der Familie Lieven und einige Situationen aus ihrem Zusammenleben in Klein-Mesothen, wo die Familie nach der Enteignung vom Gut und dem Schloss 1920 lebte. Unter diesen befand sich auch ein Foto, das mehrere von Schloss Mesothen nach Klein-Mesothen überbrachte Gegenstände zeigte, darunter Möbel, Kronleuchter und: unsere neue Uhr. Es stellte sich heraus, dass sie schon vor der Auswanderung Lievens während der sowjetischen Besetzung verkauft worden war. Die dem Brief beigelegten Xerokopien von K. J. Lievens ausländischem Pass bezeugten, dass die Gültigkeit seines 1936 ausgestellten Passes der Republik Lettland am 26. August 1940 verlängert worden war, am 27. August ein Visum darin eingetragen worden war und er sich bereits am 28. August am Flughafen Stockholm registriert hatte. Die Familie Lieven war ausgesprochen antifaschistisch und wollte 1939 nicht nach Deutschland reisen, wohin sich die meisten Deutschbalten begaben, die Lettland verließen. K. J. Lieven verließ Lettland zusammen mit seiner Mutter Elsa, geb. Baronin Fircks, die 1941 in Stockholm starb, und zog selbst in die Dominikanische Republik und weiter nach Kuba. Von Havanna wanderte er 1946
nach Kanada aus, wo er bis zu seinem Tod am 12. Dezember 1996 lebte. Seine Urne wurde neben dem Grab seines Vaters Anatol Lieven auf dem Friedhof der Familie Lieven bei den Ruinen der Kirche zu Mesothen begraben. In seiner dritten Ehe nahm K. J. Lieven Louise Maria von Dziengel aus Riga zur Frau, die 2003 verstarb. Auch die Urne Louise Maria Lievens ist auf dem Friedhof Mesothen begraben. Eine Freundin erfüllte den Wunsch der Verstorbenen und brachte drei Porträts der Familie Lieven, die Karl Johann 1940 aus den Bilderrahmen geschnitten und mit ins Exil genommen hatte, von Toronto zurück nach Lettland. Nach dem Wunsch Louise Maria Lievens sollten diese an ihren Herkunftsort zurückkehren – in das Schloss Mesothen. Da dieses in Besitz der staatlichen AG „Valsts nekustamie īpašumi“ ist, übernahm diese Einrichtung die Porträts. Die nötige Restaurierung wurde vom Schlossmuseum Rundāle vorgenommen, und aus Sicherheitsgründen blieben die Originale im Museum, während in Schloss Mesothen Fotokopien ausgestellt wurden. 2017 übergab „Valsts nekustamie īpašumi“ die Porträts dauerhaft zur Aufbewahrung an das Schlossmuseum Rundāle.
Doch über den Hersteller und den Entstehungsort der Uhr war immer noch nichts bekannt. Der Malachit ließ auf Russland schließen, die Datierung wiederum konnte anhand des Zifferblatts mit der neogotischen Verzierung präzisiert werden. In der zweiten Dekade des 19. Jahrhunderts erschienen in Europa parallel zum herrschenden Stil des Empire die ersten Beispiele für Formen des Historismus – hauptsächlich Elemente der Gotik. Auch der russische Imperator Nikolaus I. zeigte Interesse an dieser Stilrichtung und ließ im Schlosspark von Peterhof eine neogotische Villa, das sogenannte „Cottage“, errichten (1826–1829).
Dann fand das 2003 erschienene Buch „Russische Bronze“ („Русская бронза“)
des russischen Forschers dekorativer Bronze Igor Sitschow (Игорь Сычёв) seinen Weg in die Bibliothek des Schlosses Rundāle – auf dessen S. 111 ist unsere Uhr zu sehen. Es stellte sich heraus, dass dieser Gegenstand eine herausragende Biografie hat. Er wurde vom St. Petersburger Bronzemeister Andreas Johann Schreiber (Андрей Шрейбер, 1777–1843) hergestellt, der in Dorpat (Tartu) geboren wurde und Ende des 18. Jahrhunderts nach St. Petersburg zog, wo er 1801 eine Werkstatt gründete, die zu einer der bedeutendsten Produktionsstätten für dekorative Bronze in der russischen Hauptstadt wurde. Das künstlerische Niveau Schreibers wurde durch die Zusammenarbeit mit dem berühmten Architekten Carlo Rossi stark angehoben, der Entwürfe für Lüster, Kronleuchter und Uhren bereitstellte.
1829 wurde in Sankt Petersburg eine Ausstellung der Werke russischer Manufakturen organisiert. Die Uhr „Diana mit Hirschgespann“ wurde eigens für dieses Ereignis hergestellt. A. Schreibers Werke ragten in der Ausstellung heraus, die Uhr gewann die Goldmedaille. I. Sitschow zitiert die Beurteilung der Sankt Petersburger Bronzemeister F. Rechenberg und F. Kowschenkow sowie des Bronzehändlers N. Lorenzini, welche die übrigen Ausstellungsstücke kritisiert hatten, über A. Schreiber jedoch sagten: „Größte Aufmerksamkeit verdient seine schöne Uhr „Diana mit vier Hirschen“. Dieses lokale Produkt, das Schreiber selbst hier in St. Petersburg hergestellt hat, erfüllt vollständig alle Erwartungen, die man an solch eine geistreiche Kunstform stellen könnte – präzise Zeichnung, makellose Ziselierung, zusammengesetzt aus vielen Einzelstücken, bestens vergoldet. Somit kann man sagen, dass dieses Erzeugnis sehr großartig ist; auch der Preis der Uhr ist nicht sehr hoch, zieht man in Betracht, dass dies das erste Exemplar ist, welches beträchtliche Ausgaben verlangt.“ Es ist nicht bekannt, inwieweit Schreiber die Fertigung dieser Art von Uhr fortsetzte, doch sie ist auf der Titelseite der Preisliste der Firma von 1831 abgebildet. Im Buch von I. Sitschow ist unsere Uhr abgebildet, somit muss man davon ausgehen, dass ein zweites Exemplar in Russland nicht entdeckt wurde.
I. Sitschow hat den „nicht sehr hohen“ Preis der Uhr präzisiert – sie kostete 4.000 Rubel, und das ist auch die Summe, die der Eigentümer des Guts Mesothen, Fürst Johann Lieven, dafür bezahlte. Die Uhr wanderte in das Schloss Mesothen, wo sie mit zwei großen Bronzegirandolen, die wahrscheinlich zur gleichen Zeit gekauft wurden, eine Einheit bildete.
Johann Lievens Neuanschaffungen ergänzten die prachtvolle Einrichtung des Schlosses Mesothen großartig. Ihm war es vergönnt, den verzögerten Bau dieses Gebäudes abzuschließen. Dem Glanz und Reichtum der Familie Fürst Lievens zu Grunde lag die Karriere von Charlotte, der Mutter Johann Lievens. Katharina II. wählte sie nach dem Tod ihres Mannes, des Generalleutnants Baron von Lieven, zur Erzieherin ihrer Enkel, der Kinder des Thronfolgers Pawel Petrowitsch (Paul I.). Charlotte Lieven zog nicht nur fünf Großfürstinnen auf, auch die Kaiser Alexander I. und Nikolaus I. sowie die Großfürsten Michail und Konstantin waren gewissermaßen ihre Zöglinge. Bis zu ihrem Lebensende lebte sie in der kaiserlichen Familie und wurde regelrecht überhäuft mit dem Wohlwollen der Herrscher: Katharina II. übergab ihr 1795 das Gut Mesothen zur Nutzung auf Lebenszeit, das Paul I. 1797 zu ihrem Familieneigentum erklärte, bevor er sie 1799 in den Grafenstand erhob. Nikolaus I. erhob Charlotte Lieven zusammen mit ihrer Familie und ihren Nachkommen 1826 in den Fürstenstand des Russischen Kaiserreichs. 1798 begann Charlotte Lieven mit der Errichtung des Schlosses auf Gut Mesothen nach dem Projekt des sächsischen Architekten Johann Georg Adam Berlitz. Dieser wiederum hatte den Entwurf des italienischen Architekten Giacomo Quarenghi für das Schloss Eleja (Elley) überarbeitet, den Graf Jeannot Medem in Auftrag gegeben hatte. Charlotte Lieven ist auf einem von Johann Baptist Lampi gemalten Porträt zu sehen; einem der drei, die aus Kanada nach Lettland zurückgekehrt sind. Den ersten Eigentümer der Uhr „Diana mit Hirschgespann“, Fürst Johann Lieven (1775–1848), wiederum zeigt ein vom Mitauer Künstler Julius Döring 1848 – bereits nach dem Tod des Fürsten – gemaltes Porträt. Johann Lieven hatte in der russischen Armee gedient, aus der er 1815 als Generalleutnant austrat. 1828 erbte er das Gut Mesothen von seiner Mutter und schloss den Bau der Räumlichkeiten und die Einrichtung von Schloss Mesothen ab.
Die Uhr „Diana mit Hirschgespann“ ist eine vergoldete Bronzekomposition mit der Figur der Diana auf einem von vier Hirschen gezogenen Streitwagen im Format 100,5 x 88,5 x 45 cm. Sie wird von einem rechteckigen Sockel gehalten, an dessen Enden sich Reliefdarstellungen von Eberköpfen befinden; auf beiden Seiten des Zifferblatts befinden sich Basreliefs mit Mythen über die Göttin Diana. Auf der linken Seite ist sie mit ihrem Geliebten, dem Hirten Endymion, abgebildet, die rechts abgebildete Frau mit ihren zwei Kindern ist die Göttin Latona, die aus der Verbindung mit Jupiter die Zwillinge Diana und Apollo gebar. Latona wollte sich am Bach erfrischen, doch die Hirten in Lykien versuchten, sie von dort zu vertreiben, und wurden von der erbosten Latona in Frösche verwandelt.
Die Uhr hat einen bleibenden Platz in der ständigen Ausstellung „Von der Gotik bis zum Jugendstil“ des Museums eingenommen, wo sie sich zusammen mit einigen anderen Gegenständen aus dem Schloss Mesothen im dem Empire gewidmeten Raum befindet. Unweit der Uhr sind die bereits genannten Porträts Johann und Charlotte Lievens zu sehen; ebenso sind in diesem Raum Fragmente vom ornamentalen Gipsfries aus dem Schloss Mesothen ausgestellt, die 1949 aus den Ruinen gerettet wurden und bei der Erneuerung des Schlosses als Muster dienten, sowie rekonstruierte Deckengemälde, die 1971 von Restauratoren aus Leningrad ausgearbeitet wurden. Im Schlossmuseum Rundāle befinden sich auch vier Marmorskulpturen, die einst das Schloss Mesothen schmückten.
Verfasser: Dr. h. c. art. Imants Lancmanis
20.05.2024