Im Erdgeschoss des Westflügels des Schlossmuseums Rundāle ist in 15 Räumen die ständige Ausstellung „Von der Gotik bis zum Jugendstil“ zu sehen, die für sich allein ein kleines Museum für dekorative Kunst ist. Dort sind alle historischen Stile vom 15. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg vertreten sowie die Grundzüge ihrer Entwicklung in Westeuropa und ihre Erscheinungsformen in Lettland. Besonderes Augenmerk wurde darauf gelegt, wie sich die Ornamente, die Formen, Funktionen und Dekorationen von Gegenständen im Laufe der Zeit verändert haben.
Der Plan für diese Ausstellung entstand in den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts, als das Museum nicht nur Gegenstände aus dem 18. Jahrhundert erreichten, die für die Inneneinrichtung des Schlosses nötig waren, sondern auch wertvolle ältere und neuere Kunstwerke. Ein Teil davon war gekauft, da man sich des Fehlens solcher Stilbeispiele in lettischen Museen bewusst war, ein Teil wiederum bei der Rettung der wertvollsten Stücke aus verlassenen Kirchen und Landgütern erlangt, deren Vernichtung vom sowjetischen Regime beschlossen worden war.
Die ersten fünf Räume umfassen Gotik, Renaissance, Manierismus und Barock, beginnend bei der ältesten Epoche. Da herrscht ein symbolisches Halbdunkel, in dem die Gegenstände – Zeugen des Zeitalters – wie Darsteller auf einer Bühne angestrahlt sind. Im Rahmen der Möglichkeiten wurden Einrichtungsgruppen gebildet, die Gemälde und Gebrauchsgegenstände beinhalten. Texte und Gravuren helfen dabei, eine Vorstellung vom Stil zu bekommen, da sie sowohl das Ornament als sichtbarstes Merkmal des Stils als auch das Menschenbild und die Mode zeigen. Unter den ältesten Stilbeispielen im ersten Raum stechen der gotische Buffetschrank und das monumentale Porträt des Herzogs Wilhelm von Kurland (1615) hervor.
Die ehemalige Alltagsküche der Herzoge ist im Stil des Manierismus und des Barock eingerichtet, es sind auch niederländische Fliesen und Fayence-Gegenstände ausgestellt. Im Raum neben der Küche sind italienische Renaissance-Möbel und eine Sammlung früher Spitzen zu sehen. In dem Teil der Ausstellung, der dem Barock gewidmet ist, dominieren massive norddeutsche Schränke, Beispiele der für den späten Barock typischen Intarsien, lettische Silberwaren und deutsche Glaspokale.
Bei der Fortsetzung ihres Weges durch die Epochen betreten die Besucher immer hellere Räume, je mehr sie sich der heutigen Zeit nähern, als würden sie aus den Tiefen der Vergangenheit auftauchen.
In der ehemaligen Vorhalle des Westflügels ist eine Ofenkeramiksammlung zu sehen – Ofenfragmente aus lettischen Landgütern des 18. Jahrhunderts (Aistern, Ladenhof, Lieven-Bersen, Klein-Roop, Nabben, Pussen, Popen, Schleck u. a.) sowie Wohnhäusern in Riga und Ventspils.
Ein eigener Raum ist den Formen des Barock in der angewandten Kirchenkunst Lettlands gewidmet. Hier sind Kunstwerke und dekorative Einrichtungselemente aus den lutherischen und katholischen Kirchen in Iecava (Eckau), Feimaņi (Feiman), Krimulda (Kremon), Ziemupe (Seemuppen), Gramzda (Gramsden), Piltene (Pilten), Augstkalne (Grenzhof), Valtaiķi (Neuhausen), Stende (Stenden), Trikāta (Trikaten), Strutele (Strutteln), Vārme (Wormen), Skaistkalne (Schönberg) u. a. zu sehen.
Dem Rokoko sind drei Räume gewidmet. Der erste ist wie eine Vision dieser Epoche – es herrscht ein für die Kunst des Rokoko typisches Unwirklichkeitsgefühl. An der Wand und der Decke befindet sich eine Fotocollage mit Bildern dekorativer Verkleidungselemente aus lettischen Schlössern, Landgütern und Kirchen. Selbst der Boden ist wie eine Collage aus Parkettelementen des Schlosses Rundāle, die seinerzeit als zu beschädigt angesehen wurden, um sie zu restaurieren. Unter den Exponaten fallen besonders eine vergoldete Tür und ein Stuhl aus dem Schloss Svēte (Groß-Swehthof) ins Auge, der Freizeitresidenz des Herzogs Peter von Kurland, in der er am 14. Oktober 1779 Anna Dorothea von Medem einen Heiratsantrag machte. Sie wurde zur Herzogin und zu einer bekannten Persönlichkeit in Europa. Hier befindet sich auch ein Bücherschrank aus Eichenholz – der einzige Originalgegenstand, der aus dem Mobiliar der sechziger Jahre des 18. Jahrhunderts erhalten ist.
Ein realistisches Umfeld des 18. Jahrhunderts eröffnet sich dem Besucher im Raum, in dem eine grüne Vertäfelung mit versilberten Holzschnitzereien eingebaut ist. Als dessen Schöpfer wird der Bildhauer und Holzschnitzer Jozefs Slavičeks (Joseph Slawitzek, auch Slawitzky, Schlawitzky) angesehen. 1964 wurde die Vertäfelung vom Herrenhaus des Guts Pussen in das Schloss Rundāle verbracht, um sie vor dem Verfall zu retten. Der „Grüne Saal“ ist die einzige Innenraum-Holzverkleidung im Rokoko-Stil in Lettland.
Das Porzellankabinett zeugt vom „goldenen Porzellanzeitalter“ in Europa. Hier sind Porzellan- und Fayence-Gegenstände zu sehen, die in den Manufakturen des 18. Jahrhunderts in Meißen, Sèvres, Ludwigsburg, Berlin und anderswo entstanden. Seltenheitswert haben zwei allegorische Figuren aus Carl Christian Ficks Manufaktur, die von 1772 bis 1782 in Tallinn bestand und die einzige im Baltikum war.
Im Klassizismusraum sind Möbel, Geschirr, dekorative Bronze- und andere Kunstgegenstände ausgestellt, die zu einer Bewertung der Erscheinungsformen dieses Stils in Frankreich, England, Russland, Deutschland und Lettland anregen. Die Ausstellung wird von ornamentalen Gravuren und Porträts von Persönlichkeiten des 18. Jahrhunderts ergänzt.
Der dem Empire – der abschließenden Etappe des Klassizismus – gewidmete Raum schafft ein für die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts typisches Interieur, in dem die Feierlichkeit und Monumentalität griechisch-römischer Architektur sowie bedrohliche militärische Ornamente und grelle Kontraste dominieren. Es ist ein einzigartiges Exemplar der Uhr „Diana mit Hirschgespann“ zu sehen, die 1829 für die russische Industrieausstellung in Sankt Petersburg angefertigt wurde.
Das Biedermeier ersetzte in den zwanziger Jahren des 19. Jahrhunderts nach und nach das Empire. Dies äußerte sich besonders in der bildenden und der dekorativen Kunst, und in den Inneneinrichtungen spiegelten sich die wichtigsten Werte des Bürgertums wider – Familie, Behaglichkeit und Arbeitstugend.
Der vorletzte Ausstellungssaal gibt einen Einblick in die Epoche des Historismus, als Mitte des 19. Jahrhunderts die Entwicklung geschichtlicher Stilrichtungen aufhört und eine Nachahmung vorheriger Stilelemente beginnt, deren dekorative Eigenschaften übertrieben werden. In kleinen Interieur-Gruppen werden Neogotik, Neorenaissance, Neorokoko und die besonders in Frankreich geschätzten Variationen der dekorativen Kunst des Stils Louis-seize gezeigt. Der überfüllte Raum spiegelt das dem Historismus eigene Verlangen nach Prunk und äußerlichen Effekten wider.
Den Abschluss der Ausstellung bildet der Jugendstil, der in den neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts den Historismus ablöste und bis zum Ersten Weltkrieg bestand hatte. Hier ragt die Möbel- und Glaswarensammlung französischer Meister heraus. Die Möbelgruppe aus dem Neoklassizismus spiegelt die um 1905 beginnenden neuen Tendenzen wider, als sich eine Reaktion gegen die dekorativen Übertreibungen des Jugendstils herausbildete.
Mit der Ausstellung „Von der Gotik bis zum Jugendstil“ ist es gelungen, die Sammlung der nationalen lettischen Museen mit wertvollen Werken der angewandten dekorativen Kunst zu ergänzen, wie es sie zuvor in Lettland nicht gab, und die Schließung der „Lücke“ setzt sich zielgerichtet fort.
Leider sind lokale Werke in großer Zahl während der Kriege und Zeiten der Unruhe verloren gegangen. Doch Silberschmiedestücke, Zinnwaren und einzelne Beispiele für Intarsien zeugen vom hohen Niveau der dekorativen Kunst in Lettland.
Ein Teil der Exponate ist direkt mit dem Herzogtum Kurland verbunden.
Konzeption und Vermerke – Imants Lancmanis
Ausstellungsdesign – Lauma Lancmane
Computergraphik – Ieva Lūse, Ints Lūsis
Restauration der Exponate – Restauratore des Schlossmuseums Rundāle unter der Leitung von Aina Balode
05.05.2021